Die echte KI-Revolution hat noch überhaupt nicht stattgefunden. Wir stehen gerade am Anfang einer disruptiven Zeit mit ungewissem Ausgang, und kaum jemand ist sich darüber bewusst, wie wenig wir aktuell erst wissen. Hinterher wird zwar alles offensichtlich wirken, doch zur Zeit tappen wir in ziemlicher Dunkelheit. Das Potenzial für echte disruptive Veränderung ist allerdings da, es liegt etwas in der Luft und in einigen Jahren sind wir mit Sicherheit schlauer.
Disruption
Die letzten wirklich großen technologischen Disruptionen, die auch tatsächlich spürbar bei den meisten Menschen angekommen sind, waren meiner Einschätzung nach die Siegeszüge von Web-Technologien und Smartphones. Natürlich sind diese eng miteinander verwoben, doch wird jeder einsehen, dass sie unsere Welt grundlegend verändert haben.
Wenn wir uns nur 15 Jahre in die Vergangenheit versetzen, dann reden wir über eine Welt, in der Smartphones praktisch keine Rolle gespielt haben. Das ist aus heutiger Sicht kaum zu glauben. Doch wieviel von diesen Veränderungen ist in den letzten 5 Jahren passiert? Tatsächlich ist es in den vergangenen Jahren hinsichtlich echter technologischer Revolutionen eher ruhig geworden. Natürlich bringt 5G tolle neue Möglichkeiten, doch wird unser Alltag dadurch wirklich umgekrempelt? Meiner Meinung nach bislang nicht. Was ist mit Blockchain? Da konnte man sich bisher erfolgreich raushalten, wenn man keine Lust hatte. Die meiste Musik bei diesem Thema spielt(e) gefühlt ohnehin am Kapitalmarkt. Bei echter Disruption wäre das so nicht möglich gewesen. Es gibt etliche solcher Beispiele. Natürlich ist in den letzten Jahren viel passiert, jedoch waren diese Veränderungen in erster Linie nicht technologiegetrieben. Und ob die Wiederherstellung des altbekannten Alltags durch die Entwicklung neuer Impfstoffe als disruptiv gilt, darf diskutiert werden. Doch wie steht es um das große, schwammige „Feld“ der Künstlichen Intelligenz? Hat sich unser Leben dadurch wirklich grundlegend verändert? Bislang sicher noch nicht. Autonom fahrende Autos gibt es zwar, allerdings spielen sie in unserem Leben noch keine Rolle, und bis es soweit ist, gehen sicher noch einige Jahre ins Land. Auf dem Smartphone kann man viele faszinierende KI-Spielereien ausprobieren, beispielsweise hinsichtlich Bilderkennung, Sprachübersetzung oder kleinen Helfer-Algorithmen. Doch ist das Disruption oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um progressive Weiterentwicklung über viele Jahre? Mein Eindruck ist sogar, dass der Fortschritt in diesem sehr breit gefassten Feld insgesamt eher an Fahrt verloren hat.
Allerdings gibt es mindestens eine wichtige Ausnahme.
Sprachmodelle
Der letzte Schrei sind aktuell die Sprachmodelle (Language Models) à la ChatGPT und dessen mehr oder weniger erfolgreichen Zeitgenossen. In erster Instanz kommen diese Anwendungen als schnöde Chat-Bots daher. Doch wieviel Potenzial kann schon in einem Chat-Bot stecken? Wie sich herausstellt, offenbar deutlich mehr als die meisten von uns gedacht hätten. Viele Facetten an diesen Modellen sind extrem beeindruckend. Die Erstellung von lauffähigem Code anhand von einfachen Beschreibungen, der mühelose Wechsel zwischen Sprachen, die scheinbar grenzenlose Flexibilität hinsichtlich der Vorgaben und vieles mehr. Sind die Ergebnisse perfekt? Natürlich nicht, doch die Tatsache, dass viele Analysten derzeit mit diesem Anspruch an die Lösungen gehen, zeugt meiner Meinung nach nur von dem starken Eindruck der noch immer frühen Versionen. Das Bestehen des Turing-Tests wird schon länger nicht mehr als hinreichendes Kriterium für echte Intelligenz gesehen, denn der wird inzwischen souverän gemeistert. Die Latte liegt nun höher, oder vielmehr wurde sie abgenommen und zur Seite gelegt. Dieser Text enthält keine künstlich generierten Teile, das muss man mir einfach glauben, denn wenn dem nicht so wäre, würde es ohnehin keiner merken. Schüler und Studenten weltweit stehen wieder (wie schon bei den Anfängen von Wikipedia) unter Generalverdacht, ihre Arbeiten nicht selbst zu schreiben, und wieder einmal wird diskutiert, ob wir nicht bald alle wegautomatisiert werden. Doch all das ist noch längst keine Disruption. Wer keine Lust auf das Thema hat, kann sein Leben davon weitestgehend unberührt fortsetzen. Allerdings reden wir bislang auch nur von den Basistechnologien und einigen Beispielanwendungen mit durchaus signifikanten spielerischen Grundnoten. Die echte Revolution steht noch aus.
Disruption Internet
Wagt man den Vergleich mit der eingangs erwähnten Disruption durch das Web, so reden wir aktuell über die Phase, als die Technologie-Prediger noch von den Vorteilen und unbegrenzten Möglichkeiten des Internets erzählten. So wirklich glauben konnten das die meisten Menschen damals noch nicht. Niemand hätte vermutet, dass die Ölfirmen und Autohersteller bald nicht mehr die größten und mächtigsten Unternehmen der Welt sein würden. Diejenigen, die das Potenzial erkannt haben, dachten, dass nun die Zeit der Hersteller für Computer und Prozessoren gekommen sei, für Provider und Netzwerkunternehmen. Und sie sollten recht behalten. Wenn wir uns anschauen, wer im Nachhinein die größten Gewinner waren, dann sind das Unternehmen, die es vorher zum großen Teil noch überhaupt nicht gab. Damals waren es einfache Startups, die auffällig häufig in nordamerikanischen Garagen gegründet wurden. Groß geworden sind sie mit angeblich unscheinbaren Ideen, wie man das Internet als Trödelmarkt benutzen könnte oder wie man es gebrauchen könnte, um Bücher zu verkaufen und sich mit Freunden auszutauschen. Oder sie beschäftigten sich mit der Textsuche über die Webseiten anderer Leute. Häufig wurden die Gründer als Nerds belächelt, und tatsächlich waren und sind viele von ihnen wahrhafte Nerds. Damals war der coole Nerd noch ein Oxymoron. Doch vieles hat sich seitdem geändert, es war eben echte Disruption.
Disruption Sprachmodelle
Doch wie lässt sich diese Beobachtung auf die heutige Zeit übersetzen? Eine mögliche Schlussfolgerung wäre, dass selbst bei einer Explosion dieser Technologie nicht unbedingt die heutigen Tech-Giganten die größten Gewinner sein müssen. Denn vielfach wird genau dies befürchtet, da diese Unternehmen aktuell die mit Abstand größte Kontrolle über die Systeme haben. Jedoch wissen wir noch überhaupt nicht, wie sich das Thema entwickeln wird. Wir haben neue Technologien, neue Strukturen und damit neue Möglichkeiten, wobei das größte Potenzial mit Sicherheit in eben jenen Ideen liegt, die wir noch gar nicht kennen. Jene Ideen, für die es sich lohnt, sich in eine Garage einzuschließen, für die man heute noch belächelt wird und die vielleicht das Potenzial haben, in ein paar Jahren die Welt umzukrempeln. Das könnte ein persönlicher Assistent mit Charakter sein (Her, 2013), ein Bot, der alten Code verbessert und so unauffällig im Hintergrund die Welt effizienter macht oder eine Plattform im Netz, die Quellen verifiziert und Fake News entlarvt (entgegen der aktuellen Befürchtung, dass Falschinformationen durch Sprachmodelle noch deutlich zunehmen könnten). Wenn ich gute Beispiele nennen könnte, würde ich mich vielleicht selbst in eine Garage einschließen. Entscheidend könnten allerdings neben der Basistechnologie und der Infrastruktur vor allem die Anwendungen werden, wie es eben auch in der Vergangenheit bereits der Fall war. Manch einer mag zwar behaupten, dass das Zeitalter der Garagen passé ist, doch gab es solche Prognosen bisher noch vor jeder echten Disruption. Feststellen lässt sich lediglich, wie wenig wir bislang wissen, jedoch ist auch das nicht neu, man muss nur von Zeit zu Zeit daran erinnert werden. Ob das, was am Ende dabei herauskommt, letztlich gut oder schlecht ist, kann man heute ebenso wenig sagen, wie man es in Retrospektive über vergangene Disruptionen kann. Insofern sehe ich auch keinen Grund für allzu viel Schwarzmalerei. Zumindest solange wir davon ausgehen, dass Sprachmodelle ein begrenztes Werkzeug bleiben und uns nicht ins KI-Armageddon führen. Das wäre dann doch etwas arg disruptiv.