aus dem Netzwerk Insider August 2023
Was glauben Sie, was passiert, wenn Sie zum Autohändler gehen und der Verkäufer schon genau weiß, welches Auto Sie haben wollen oder unbedingt schon am nächsten Tag brauchen? Ein anderes Gefährt kommt nicht infrage, und andere Händler sind ebenfalls tabu. Natürlich wird man Ihnen versichern, dass man sich gut um Sie kümmern wird, und der Preis wird schon stimmen, ist ja schließlich ein tolles Auto. Klingt nicht so verlockend? – allerdings auch nicht wirklich realistisch. Schlussendlich würde sich doch niemand absichtlich in so eine Situation bringen. Oder?
Abhängigkeiten sind schon überall
In der IT sind wir inzwischen daran gewöhnt, uns auf deutlich ausgeprägte Abhängigkeiten einzulassen. Outsourcing wäre da so ein Stichwort, das viele in die Abhängigkeit von Dienstleistern getrieben hat. Natürlich kann man diese wechseln. Doch hat jeder, der versucht hat, einen langjährigen Dienstleister auszutauschen, schon erlebt, dass dies weder ad hoc noch ohne größere Aufwände und Reibungsverluste möglich ist. Allerdings gibt es auch Vorteile, und Outsourcing bleibt beliebt.
Weitere Beispiele finden sich bei der Software. Vereinzelt werden zwar erbitterte Kämpfe geführt, um die Abhängigkeit von Microsofts Windows oder Office im Anwenderbereich zu zügeln, doch die breite Masse hält sich kaum mit der Frage nach dem Warum auf und begibt sich stattdessen bereitwillig in den Microsoftschen Lizenzdschungel, um zu tun, was schließlich getan werden muss.
Insbesondere der steile Aufstieg des Cloud-Markts gibt der Diskussion eine gewisse Würze, denn hier sind Abhängigkeiten zum Teil unmittelbar spürbar. Dazu gehört nicht allein die Abhängigkeit vom Cloud-Anbieter. Vielmehr drehen sich die Diskussionen häufig um das Internet, das in der Regel zur Verbindung mit dem gewünschten Dienst genutzt wird. Ein ums andere Mal haben wir in zahlreichen Projekten die Argumente gegen die Abhängigkeit vom Internet gehört.
Dies gilt insbesondere bei der Telefonie, denn hier hat man sich durch die Bildung von Clustern längst daran gewöhnt, redundanten Verbindungen und SLA-gestützten Verträgen mit Anbietern, die Gesamtverfügbarkeit gezielt zu entwerfen – mathematisch nachvollziehbar und mit der gewünschten Anzahl von Neunen hinter dem Komma. Das Internet spielt da nicht mit. Es gibt keine (Ende-zu-Ende) SLA, und solange uns die Netzneutralität erhalten bleibt, wird sich daran nichts ändern.
Und so ist es wenig überraschend, dass gewisse Cloud-Angebote aus dem Kontext Telefonie noch immer mit einer gehörigen Portion Skepsis gesehen werden, insbesondere wenn Gesprächsdaten über das Internet geführt werden sollen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass dies vor allem im internationalen Vergleich inzwischen anders gesehen wird. Ein (durchaus berechtigtes) Argument gegen die Notwendigkeit der Unabhängigkeit vom Internet lässt sich recht gut an der Frage veranschaulichen, worüber die Anwender mit ihrem Gegenüber denn sprechen können, wenn es keine Internetverbindung mehr gibt. Manch einer (KRITIS) mag darauf eine gute Antwort haben. Doch wenn beispielsweise die CRM-Lösung aus der Cloud bezogen wird und der Mitarbeiter dementsprechend keinen Zugriff auf die Kundendaten hat, kann er mit den Kunden höchstens noch über das Wetter sprechen.
Keine Frage, Unabhängigkeit hat ihren Preis, und dabei geht es nicht nur um Geld. Wenn jemand das Wort ”Open Source” als Alternative für mehr Unabhängigkeit in den Mund nimmt, wird er angeguckt, als hätte er sich gerade mit einem selbstgemalten Plakat um den Hals in die Lobby geklebt. ”On Premises” geht als Schlagwort etwas besser, allerdings ist man dann auch schnell der Ewiggestrige, der sich nicht auf neue Technologien einlassen möchte. Und dahinter steckt sogar ein valider Punkt: Beispielsweise bei der Kommunikation werden reine On-Premises-Lösungen technologisch abgehängt. Zwar werden einige Lösungen in Zukunft ebenfalls bestehen (müssen), jedoch wandert der Ansatz mit zunehmender Geschwindigkeit in die Nische. Wer seinen Anwendern also nicht nur irgendeinen Dienst zur Verfügung stellen, sondern technologisch Schritt halten und gleichzeitig keine neuen Abhängigkeiten aufbauen möchte, dem gehen die Optionen aus.
Wir erkennen, dass Kompromisse letztlich notwendig sein werden. Doch es geht noch mehr.
Eine neue Dimension der Abhängigkeit
Die Speerspitze dieser Entwicklung beobachten wir in diesen Tagen beim Thema Microsoft 365.
Microsoft hat damit kommerziell den absoluten Volltreffer gelandet. Es wurde ein Produktportfolio aufgebaut, welches sich komfortabel im Abonnement per Nutzerlizenz buchen lässt und dem Kunden dafür ein unübersichtliches Portfolio an Einzelanwendungen bereitstellt. Dazu gehören neben Diensten und Oberflächen aus der Cloud auch ganz klassische Anwendungen, die lokal installiert und ausgeführt werden. Im Hintergrund laufen einige Dienste in der Cloud. Hierzu zählen neben Azure Active Directory und Exchange Online vor allem auch SharePoint Online. Dies ist gewissermaßen der Kitt, der das Portfolio einfängt und ihm eine gemeinsame Basis gibt. Die meisten Anwender interessieren sich dafür allerdings nicht, insbesondere SharePoint war bei ihnen noch nie sonderlich beliebt. Doch für die Anwender hat Microsoft ebenfalls ein ganz besonderes Ass im Portfolio: Microsoft Teams.
Microsoft Teams ist einem Großteil der Anwender durch die Kommunikationsfunktionen bekannt: Meetings, Chats und Calls. Das lief schon vor der Pandemie gut und hat währenddessen noch einmal turbulenten Rückenwind bekommen.
Strategisch steht das Produkt jedoch für sehr viel mehr als „nur“ Kommunikation. Microsoft Teams ist DAS Aushängeschild und DIE Anwenderschnittstelle für das Microsoft-365-Portfolio. Letztlich wird über Microsoft Teams jeder bewusst oder unbewusst zum SharePoint-User, selbst wenn er sich früher gerne lautstark über die holperige Webanwendung beschwert hat.
Was in diesem Kontext ganz besonders relevant ist: Microsoft Teams etabliert eine ganz neue Dimension der Abhängigkeit. Zunächst einmal sollten wir uns darüber bewusst werden, wofür die Microsoft-365-Anwendungen und vor allem Microsoft Teams überhaupt gedacht sind. Durch die bunte Mischung von Anwendungen verwischen zwar einige Grenzen, jedoch geht es im Kern noch immer um die Erstellung und Bearbeitung von Inhalten – dies wohl mit deutlich mehr Fokus auf potenzielle Zusammenarbeit mehrerer Anwender, wodurch nun auch umfangreiche Möglichkeiten zur Kommunikation und Kollaboration im Scope sind. Bei jedem einzelnen dieser Punkte fallen Daten an, und diese Daten werden selbstverständlich in der Cloud gespeichert. Dies gilt zum Beispiel für alle Texte und Dateien, die in den Teambereichen oder diversen Chats der Lösung (Direktchats, Gruppenchats, Meeting-Chats, Team-Chats) für (automatisch erstellte) Protokolle und Aufzeichnungen abgelegt werden, etc.
Ein erklärtes Ziel vieler Kunden besteht darin, über diese Werkzeuge die Flut interner E-Mails nicht nur vollständig abzulösen, sondern durch ein deutlich besseres Werkzeug ersetzen zu können.
Denn statt endloser Ketten unübersichtlicher E-Mails („AW: AW: Re: AW: Meine Kontaktdaten“) mit endlosen Einrückungen in diversen Formaten und Verweisen auf Dateianhänge, die längst nicht mehr angehängt, geschweige denn aktuell sind, kann ein Team bzw. Kanal genutzt werden, in dem Inhalte gezielt diskutiert und die Daten strukturiert abgelegt, (gleichzeitig!) bearbeitet und archiviert werden können. Ein neuer Anwender kann einfach organisatorisch hinzugenommen werden und bekommt automatisch sehr gezielt Zugang auf diese strukturierten Daten, statt einer Massenweiterleitung alter Mails mit fehlenden und/oder veralteten Anlagen. Im Arbeitsalltag kann das eine extreme Verbesserung sein.
Doch zurück zum Thema: Wenn eine solche Lösung erfolgreich in dem beschriebenen Umfang – tatsächlich geht natürlich mehr – genutzt wird, dann wird sie sehr schnell unersetzlich. Stellen Sie sich vor, wie die Datenlage nach einigen Jahren intensiver Nutzung aussehen muss. Dort wird das geballte Projektwissen liegen, es werden kritische Daten und Konversationen dabei sein und sie werden gleichzeitig als Arbeitsdaten, Wissensstand, Dokumentation und Vorlage für künftige Projekte dienen. Die Lösung wird ein zentraler Datensammelpunkt, und das sozusagen by Design, denn mit diesem Ziel führt man so ein Produkt schließlich ein.
Einen Vorgeschmack darauf, wie es sich anfühlt, wenn all das plötzlich wegfällt, haben viele Anwender noch im Januar bekommen, als weltweit für Millionen Anwender unter anderem Teams ausfiel. In solchen Momenten glänzen jene Kollegen, die normalerweise von ihren anderen Kollegen belächelt werden, weil sie sich regelmäßig die Mühe machen und vorsichtshalber lokale Kopien der wichtigsten Dateien auf ihren Clients anlegen. Damit kann man zwar nur einen kleinen Teil eines solchen Ausfalls abfedern, doch in solchen Fällen ist plötzlich der Einäugige unter den Blinden der König.
An dieser Stelle soll es jedoch weniger um die kurzfristige Verfügbarkeit gehen als um die langfristige Abhängigkeit. Dazu gibt es auch ein Negativbeispiel für einen kleinen Vorgeschmack: Dass Cloud Collaboration ein wachsender Zukunftsmarkt ist, war schon seit vielen Jahren Konsens in der Branche, und so hat sich der einstige Kommunikationsriese Unify, wie so ziemlich alle übrigen Marktbegleiter, ebenfalls an einem solchen Produkt versucht. In diesem Fall war das Unify Circuit, dessen Vorgänger sogar zu den frühen Vorreitern dieser Kategorie gezählt werden darf, ohne jedoch jemals den Durchbruch bei den Kunden geschafft zu haben. Dies war dann der Grund, weshalb das Produkt letztlich abgekündigt und zum Ende 2022 eingestellt wurde. Zwar war der Ansatz von Circuit längst nicht so vereinnahmend wie bei Microsoft Teams, doch auch hier gab es Teambereiche mit Chats, Daten etc. Das Beispiel verdeutlicht, dass Cloud-Dienste in dieser inzwischen extrem schnelllebigen Branche keineswegs für immer laufen werden.
Dabei suggerieren sie zunächst genau das: Einen fortlaufenden Dienst, über den ich mir als Kunde nie wieder Gedanken zu machen brauche. In der Vergangenheit bestand irgendwann immer Handlungsbedarf, sei es, weil die Verträge ausliefen, weil die Hardware ausgetauscht werden musste oder weil ein Update auf ein neues Major Release anstand. Dies wurde häufig zum Anlass einer Neubewertung, einer Strategieänderung oder einer Ausschreibung genommen, bei der letztlich ein Wechsel des Herstellers herauskommen konnte. All das gehört aus Sicht der Cloud-Anbieter der Vergangenheit an. Wer sich in deren Hände begibt, möge bitte schön für immer dortbleiben. Updates an Software und Hardware sind bereits inbegriffen, und der Kunde bekommt davon (hoffentlich) wenig mit, es sei denn der Client sieht eines Morgens plötzlich anders aus. Und die Verträge werden ganz bewusst nur noch als Abonnement beworben, mit laufenden Kosten und vorzugsweise ohne Laufzeit. Das Problem daran ist allerdings: „Für immer“ ist eine ziemlich lange Zeit.
Tatsächlich werden weiterhin auch zeitlich begrenzte Verträge unterschrieben. Allerdings ist es nicht wirklich die Laufzeit, die den Kunden an das Produkt fesselt, sondern die Kombination aus Daten und Zeit.
Während der Pandemie hat sich der Markt schlagartig vergrößert, und für die Hersteller galt es in erster Linie, sich um jeden Preis möglichst viele Anteile eines wachsenden Kuchens zu sichern, was Microsoft hervorragend gelungen ist, und das insbesondere bei uns in Deutschland.
Selbst heute noch zeigt sich Microsoft in vielen Preisverhandlungen äußerst „großzügig“, wenn es beispielsweise um die Preisdifferenz zwischen einer E3- und einer E5-Lizenz in einer großen Umgebung geht. Dadurch kann eine Migration der Telefonie auf Microsoft Teams und dessen Phone System mitunter durchaus finanziell attraktiv werden. Gleichzeitig steigt noch einmal die Abhängigkeit.
Und wie sieht es dann in der Zukunft aus? Wie wird die nächste Runde der Vertragsverhandlungen wohl verlaufen? Oder die übernächste? Und da wären wir dann bei der Analogie mit dem Autohändler angekommen.
Was kann man als Kunde dann noch tun, wenn die Preise erhöht werden? Die letzte deutliche Preiserhöhung bei Microsoft liegt gerade einmal ein paar Monate zurück, und künftig soll es alle 6 Monate weitere „Preisanpassungen“ geben, um beispielsweise Schwankungen in den Devisenkursen abfangen zu können. Wenn jedoch eines sicher ist, dann, dass die Kosten langfristig weder sinken noch stagnieren werden. Normalerweise kann man als Kunde mit den Beinen darüber abstimmen, ob die Preise noch angebracht sind oder nicht. Doch was ist, wenn ich diese Freiheit de facto schon gar nicht mehr habe?
Vielleicht lassen sich die eigenen Daten zu einer neuen Lösung ja mitnehmen? Als Kunde habe ich schließlich ein Recht auf meine Daten, zumindest in Teilen könnte ich direkt darauf zugreifen, zum Beispiel über SharePoint. Doch wie speichere ich sie sinnvoll ab, und wie bekomme ich sie in meine neue Lösung importiert? Das Format stimmt einfach nicht, und es gibt keine passenden Import-Funktionen.
Diverse Formen von Chats und Dateiablagen (mit zugehöriger Rechteverwaltung!) gibt es zwar auch bei anderen Produkten, aber in der Praxis wäre der Löwenanteil der Daten, sofern sie zuvor ausschließlich bei Microsoft lagen, zu einem Großteil nur noch indirekt und damit sehr umständlich zugänglich bzw. in der Praxis sogar verloren.
Heute bekommen das bereits jene Firmen zu spüren, die durch Betriebsübernahmen oder organisatorische Neustrukturierungen bestehende Umgebungen zusammenlegen oder trennen müssen. Es gibt Ansätze, um Microsoft-Teams-Umgebungen auf andere Microsoft-Teams-Umgebungen abzubilden, doch sobald es herstellerübergreifend werden soll, wird es plötzlich ganz dünn.
Es gibt vielfältige Gründe, weshalb ein Kunde nicht für immer bei demselben Anbieter bleiben möchte, und ein Produkt wie Microsoft Teams gräbt sich um ein Vielfaches tiefer und breiter in die Umgebung, als es vorherige Produkte getan haben.
Natürlich kann man sich gegen die Fortsetzung der Nutzung entscheiden. Man kann Abonnements nicht verlängern, Verträge kündigen oder auslaufen lassen. Doch wenn dabei sämtliches Projektwissen der letzten Jahre auf dem Spiel steht, wird man sich diesen Schritt sehr sorgfältig überlegen müssen. Ein Stichwort an dieser Stelle lautet Business Continuity, und die ist dann plötzlich in Gefahr.
Ein Exit, wenn er eines Tages kommen soll, muss sehr sorgfältig vorbereitet und behutsam durchgeführt werden. Und er wird trotzdem schmerzen. Manch einer wird sich sicher noch an die Migration von Lotus Notes (aka. IBM Notes, HCL Notes) erinnern. Spaß sieht anders aus. Allerdings könnte es noch viel schlimmer kommen.
Vielen ist die Tragweite dieses Problems bislang nicht bewusst. Dafür sind Produkte noch zu neu, die Migrationen sind häufig noch nicht abgeschlossen, und kaum jemand macht sich schon Gedanken über das, was irgendwann mal danach kommen soll. Frei nach dem Motto: Was interessieren mich meine Probleme von morgen?
Dabei geht es hier nicht zuletzt um wesentliche Grundsätze der IT. Selbst wenn man so schnell keine schöne Lösung finden wird, so sollte man darüber zumindest einmal nachdenken.