Das Projektinterview: E-Ladesäulen-Infrastruktur rechtzeitig konzeptionieren und planen
02.05.22 / Michael Schaaf
aus dem Netzwerk Insider Mai 2022
Das neue Gebäude-Elektromobilitätsinfrastruktur-Gesetz (GEIG) ist vor einem Jahr in Kraft getreten und soll den Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektromobilität in Gebäuden beschleunigen. Bauherren und Eigentümer müssen demzufolge Parkplätze ihrer Gebäude mit Ladepunkten ausstatten. Wenn die Mindestanforderungen des GEIG bei Bestandsgebäuden nicht umgesetzt wurden, können bei der nachträglichen Erweiterung oder Planung von E-Ladesäulen Probleme auftreten wie z. B. fehlende Leitungswege und Platzreserven in Verteilungen sowie Kapazitätsreserven in der allgemeinen elektrischen Infrastruktur bzw. der Leistungsauslegung der Anlagen.
Michael Schaaf ist seit fast drei Jahrzehnten Senior-Berater bei ComConsult. In diesem Interview berichtet er über die Vorbereitungen, die er für einen Kunden zur Erweiterung der bestehenden E-Ladesäulen-Infrastruktur getroffen hat.
Michael, erzähle bitte kurz von deinem Werdegang bei ComConsult.
Ich habe 1993 bei ComConsult angefangen und bin direkt als Projektleiter eingestiegen. Damals haben wir die Generaldirektion eines großen Logistikunternehmens umgebaut. Aus diesem Umbau entwickelte sich ein zehnjähriges Projekt und wir planten den Neubau der Zentrale und betreuten den Netzwerkbetrieb für alle Nebenstellen. In dieser Zeit wurde ich Leiter des ComConsult Competence Centers Netze. Als wir dann mit weiteren Implementierungsprojekten beauftragt wurden, gründeten wir das Competence Center Rollout und Betrieb und ich wechselte als Leiter in diesen Bereich. Zusätzlich bin ich hauptverantwortlich für das Competence Center Elektro-Infrastrukturen. Ich war Projektleiter bei vielen nationalen und internationalen Projekten. Wir haben in der Vergangenheit zum Beispiel für einen Telekommunikationskonzern ein 1.000 Quadratmeter großes Rechenzentrum geplant und umgesetzt. Anschließend wurde der Umzug aller Komponenten aus der alten Lokation durch uns geplant und mit eigenen Kräften umgesetzt, das war ein gigantisches Projekt.
Holst du dir bei einem großen Projekt Unterstützung bei deinen Kollegen aus den anderen Competence Centern?
Ja, auf jeden Fall. Die ersten Gespräche mit einem neuen Auftraggeber führe ich alleine. Ich verfüge über Grundlagenwissen quer über alle Themenbereiche, angefangen bei Infrastrukturen und Netze über Fehlersuche und WLAN bis hin zu Sicherheitsanlagen, wie z.B. Videoüberwachung und Zutrittskontrolle. Wenn es ins Detail geht, nehme ich Experten aus dem jeweiligen Competence Centern mit ins Boot. Ich mische überall gerne mit und mache eigentlich alles, doch ich bin kein Einzelkämpfer.
Ein großer Automobilkonzern hat ComConsult mit einer Machbarkeitsstudie zur Erweiterung seiner E-Ladesäulen-Infrastruktur beauftragt. Wie kam es dazu?
Die IT-Leiterin des Standorts Berlin kam auf mich zu. Ich hatte damals den Bau des Gebäudes an diesem Standort mit geplant und beaufsichtigt und aus dieser Zeit kannte ich sie. Es gab in der Tiefgarage schon ein paar Ladesäulen und ihr Vorgesetzter wollte nun, dass jeder Parkplatz elektrifiziert wird. Sie hat sich an ihren Haus- und Hof-Elektriker gewandt, der das für völlig unproblematisch hielt. Das machte sie stutzig und daher rief sie mich an und bat mich um eine professionelle Einschätzung.
Wie war die Ausgangslage?
In einem relativ neuen Bürogebäude, bestehend aus 3 versorgungstechnisch unabhängigen Gebäudeteilen, waren in der Tiefgarage bereits zehn Ladesäulen installiert worden, zwei im Bauteil 1 und acht im Bauteil 2.
Zuerst hast du die zentralen Elektro-Unterverteilungen (NSHV) untersucht.
Richtig. Die Niederspannungshauptverteilung (NSHV) für den Bauteil 1 befand sich im siebten Obergeschoss oben auf dem Dach, die NSHV für Bauteil 2 war im Untergeschoss. Zunächst mussten wir untersuchen, wie viel Leistung im Gebäude überhaupt zur Verfügung steht. Im ersten Schritt haben wir den Provider kontaktiert, um die Fragen zu klären, was die Trafos leisten, welchen Lastgang sie aufweisen und welche Leistungsreserve für weitere Ladesäulen zur Verfügung steht.
Was hast du festgestellt, als du dir die Installation angesehen hast?
Nachdem uns die Werte des Providers vorlagen, haben wir uns die Installationspläne angesehen. Dabei haben wir festgestellt, dass die Ladesäulen in Bauteil 1 gar nicht auf der NSHV von Bauteil 1, sondern auf der NSHV von Bauteil 2 lagen. Weil die Bauteile in ihrer Stromversorgung eigenständig sind, haben sie jeweils einen eigenen zentralen Erdungspunkt. In dieser Konstellation ist es nicht auszuschließen, dass zwischen den zentralen Erdungspunkten Potentialunterschiede auftreten, eine bauteilübergreifende ELT-Verkabelung wird als äußerst ungünstig angesehen. Des Weiteren haben wir festgestellt, dass die durch den Provider gemeldete zur Verfügung stehende Leistung für den Bauteil 2 mit den Nennleistungen der installierten Ladesäulen bereits überschritten wurde. Wenn also alle Ladesäulen gleichzeitig unter Volllast betrieben worden wären, wäre in Bauteil 2 das Licht ausgegangen.
Muss man denn davon ausgehen, dass alle Ladesäulen gleichzeitig genutzt werden?
Bei der Leistungsberechnung von Ladesäulen wird mit einem sogenannten Gleichzeitigkeitsfaktor gerechnet. Zum Vergleich: Gleichzeitigkeiten von Arbeitsplätzen in einem Bürogebäude liegen normalerweise beim Faktor 0,6 bis 0,7. Man rechnet also damit, dass beispielsweise in einem Büro nie mehr als 70 Prozent aller Geräte zeitgleich in Betrieb sind. Gleiches gilt für die Gebäudeinfrastruktur. Auch hier sind Verbraucher wie Treppenlicht, Aufzug, Heizung, Lüftung und Klimaanlage selten gleichzeitig unter Volllast. Bei Ladesäulen ist der Trend in Bezug auf die Gleichzeitigkeit in einem ständigen Wechsel. Abhängig von der Anzahl der installierten Ladesäulen wird derzeit ein Gleichzeitigkeitsfaktor von 0,4 – 0,7 zugrunde gelegt. Mit Blick in die Zukunft ist ein Gleichzeitigkeitsfaktor von 0,8 und höher nicht auszuschließen. Der Grund für diese Annahme liegt auf der Hand: neben der zurzeit stark zunehmenden Zulassung von Hybridfahrzeugen steigt auch die Zahl neuer vollelektrischer Fahrzeuge und die meisten Mitarbeiter kommen morgens zur Arbeit und wollen ihre Autos während der Arbeitszeit aufladen. Selbst wenn in allen Fahrzeugen ein Lademanagement verbaut ist und die Ladeleistung mit zunehmender Ladekapazität abnimmt, wird zu Arbeitsbeginn mit hoher Wahrscheinlichkeit die Maximalleistung der Ladeinfrastruktur erwartet. Doch wie hoch ist diese Maximalleistung denn überhaupt?
Hier können Leistungsbilanzen helfen. Wir haben für die Bauteile 1 und 2 begonnen, indem wir bestehende Langzeitmessgeräte an den jeweiligen NSHV´en ausgelesen und ausgewertet haben. Wir haben 5 Messgeräte in unserem Pool und können diese zur Erstellung der zwingend erforderlichen Lastdaten bei Kunden aufbauen, falls diese nicht über solche Messgeräte verfügen sollten.
Mit Auswertung des Lastgangs konnte festgestellt werden, zu welchen Zeiten die abgenommene elektrische Leistung am höchsten ist und welche Reserven zur Verfügung stehen. Das Ergebnis war, dass mit der jetzigen Installation und zeitgleicher Nutzung aller Ladesäulen durch vollelektrische Fahrzeuge die NSHV und der Trafo in Bauteil 2 überlastet wären. Diese Tatsache würde im Moment noch gar nicht so sehr ins Gewicht fallen, da das Verhältnis von Verbrennern, hybriden und vollelektrischen Fahrzeugen noch zu Gunsten der Verbrenner ausfällt. Was aber, wenn der Anteil der vollelektrischen Fahrzeuge gegen 100 Prozent geht, wer prüft im Verlauf dieser Migration erneut die elektrischen Anlagen?
Wie kann man eine Überlastung vermeiden?
Durch ein Lademanagementsystem. Dabei wird die zur Verfügung stehende Leistung automatisch über eine Software auf die zu ladenden Elektrofahrzeuge verteilt.
Wir haben dem Kunden empfohlen, die beiden Ladesäulen von Bauteil 1 in Bauteil 2 umzuziehen, das bereits vorhandene Lademanagement in Betrieb nehmen zu lassen und auf den vom Provider genannten Wert einzustellen. Mit den 10 Ladesäulen würden dann alle zur Verfügung stehenden Parkplätze im Bauteil 2 versorgt.
Welche Ladesäulen gab es beim Kunden?
Die 10 Ladesäulen im Bestand aus Bauteil 1 und 2 waren Doppelladesäulen. Darunter versteht man Säulen, an denen zwei Elektroautos gleichzeitig geladen werden können. Jede Säule hatte eine Ladeleistung von 2 mal 22 kW.
Für Bauteil 1 sollte eine neue Ladeinfrastruktur entstehen?
Ja genau, ebenfalls mit Lademanagement. Wir haben ermittelt, welche Abgänge in der NSHV noch zur Verfügung stehen, welche Kabelquerschnitte wir benötigen und wo wir die Unterverteilungen mit den Einzelabsicherungen für die Ladesäulen aufbauen und die Ladesäulen stehen. Bei der Standardplanung mussten wir uns Gedanken über geeignete Kabelwege, die Kabeltrassen, den Kabelkanal, die Rohre, die Zuleitungen und natürlich die Ladesäulen machen. Bei den Ladesäulen ist nicht nur der benötigte Strom, sondern auch die Erdung zu berücksichtigen. Wichtig ist ebenso eine Datenleitung, damit das Lademanagement funktioniert. Man braucht entweder eine LTE- oder eine WLAN-Verbindung oder ein Kabel. Für Tiefgaragen sind wegen der oft schlechten Mobilfunk-Verbindung und dem mangelnden Ausbau der WLAN-Infrastruktur zusätzliche Datenkabel meist die günstigste Option. Diese Planung haben wir in einem Konzept zusammengefasst.
Für Bauteil 1 mussten neue Ladesäulen angeschafft werden. Welche hast du empfohlen?
Es gibt Ladesäulen mit unterschiedlichen Leistungen und Anschlusspunkten: Säulen von 4,7 kW bis 2 mal 22 kW als Wechselstromladung bis hin zu Schnellladern mit 50 bis 350 kW als Gleichstromlader. Bei den Schnellladern sind die Entwicklungen rasant, immer mehr Leistung für immer kürzere Ladezeiten, natürlich in Abhängigkeit der Ladeeinheit des Fahrzeugs. Während sich bei den Wechselstromladesäulen der Typ-2-Stecker durchgesetzt hat, werden für die Gleichstromladesäulen je nach Anbieter verschiedene Stecker verbaut.
In einem Hybridfahrzeug werden zurzeit je nach Hersteller Batterien mit einer Kapazität zwischen 8 und 16 kWh verbaut. Als Ladeleistung können diese Fahrzeuge bis zu 7,4 kW aufnehmen. Daraus resultiert, dass eine 11 kW-Ladesäule hier völlig ausreicht.
Vollelektrische Fahrzeuge beginnen mit Akkukapazitäten von 30 kWh für den kleinen Stadtflitzer und enden aktuell bei 130 kWh für das Tesla-Modell X. Für diese Fahrzeuge ist jedoch ebenfalls die mögliche Ladeleistung zu berücksichtigen, diese kann bis zu 250 kW betragen. Mit Blick auf die ständig zunehmende Kapazität der Akkumulatoren in den vollelektrischen Fahrzeugen benötigt man aus unserer Sicht mindestens eine 22-kW-Ladestation, um in einer angemessenen Zeit voll aufzuladen.
In einem anderen Fall fanden wir Ladesäulen mit einer Gesamtleistung von 22 KW (1 mal 22 KW oder 2 mal 11 KW) vor. Das führt zu Problemen: steckt sich das erste Elektroauto an eine Ladesäule an, lädt es mit 22 kW. Der Fahrer geht davon aus, dass sein Auto nach 4 bis 6 Stunden aufgeladen ist. Kommt ein zweites Elektrofahrzeug an diese Säule, bekommt jedes Auto nur noch 11 kW und die Ladezeit verlängert sich entsprechend. Der Fahrer, der zuerst an der Säule war, muss also unter Umständen damit rechnen, dass sein Auto nach Dienstschluss noch nicht aufgeladen ist.
Wir haben in diesem Fall, auch aufgrund des Bestandes, mit Doppelladesäulen 2 mal 22 kW geplant. Die Tiefgarage hatte teilweise Sektionen mit 3 Parkplätzen. Jedoch haben wir von Einzel-Ladesäulen abgesehen, weil sie unverhältnismäßig teuer sind und der Bedarf an Parkplätzen ohne Ladestation für Verbrenner ebenfalls berücksichtigt werden muss.
Welche Kosten hast du für den Um- und Ausbau der E-Ladeinfrastruktur kalkuliert?
Ohne Ladesäulen muss dieser Kunde für die Installation von 18 Ladesäulen 2 mal 22 kW mit rund 90.000 Euro rechnen. Dazu kommen die Säulen, die je nach Modell und Ausstattung zwischen 3.000 und 8.000 Euro im Stück kosten. Zusätzlich sind die Ausgaben für ein eventuell notwendiges Lademanagement zu berücksichtigen.
Gibt es Ladesäulen, die du nicht empfehlen würdest?
Ich würde aktuell keine 11 kW-Ladesäulen mehr bauen. Ich gehe davon aus, dass der Bestand an vollelektrischen Fahrzeugen stetig steigt und der Einsatz von Schnellladern mit Gleichstrom an Bedeutung gewinnen wird. Diese Schnelllader in einem Bestandsgebäude zu installieren, scheitert jedoch meistens an der zur Verfügung stehenden Leistungsreserve.
Wann wird der Kunde das Projekt umsetzen?
Momentan kommt der Kunde mit den vorhandenen 10 Ladesäulen noch zurecht. Mit Aussicht auf die Tatsache, dass Hybrid- und Elektrofahrzeuge vermehrt produziert und ab 2030 die Neuzulassung für Verbrennungsmotoren verboten werden soll, wird er das Projekt wohl in der nächsten Zeit realisieren.
Worauf sollte bei der Planung einer E-Ladesäuleninfrastruktur besonders geachtet werden?
Es ist wichtig, eine Leistungsbilanz zu erstellen und den Bedarf für einen ausreichend in die Zukunft orientierten Zeitraum zu bestimmen. Themen wie Überwachung, Gleichzeitigkeit, Lastmanagement und Leistungsreserven müssen in enger Absprache mit dem Stromversorger erfolgen. Viele Unternehmen verbauen Ladesäulen und wissen gar nicht, welche Leistungen sie haben und welche sie brauchen. Dabei benötigen sie oft weniger Leistung, als man vermuten würde. Wenn man mithilfe der oben genannten Werkzeuge und Verfahren agiert und die Anlage dimensioniert, ist man nicht nur auf der sicheren Seite, sondern ist letztendlich überrascht bezüglich der Ausbaufähigkeit seines Gebäudes zum Thema E-Mobilität.