Digitaler Kompass 2030

24.03.2022 / Sven Tekaat

Bei der Vorbereitung eines Kundentermins fiel mir kürzlich wieder ein Dokument mit einer recht sperrigen Bezeichnung in die Hände:

„MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN

Digitaler Kompass 2030: der europäische Weg in die digitale Dekade“ [1]

Das Veröffentlichungsdatum 09.03.2021 ist schon eine Weile her. Dieses Dokument hat ebenfalls für einiges Aufsehen und kontroverse Diskussionen in der europäischen IT-Branche gesorgt. Dennoch sind die formulierten Ziele heute aktueller denn je.

Formulierte Ziele

Im Kern wurden vier Zielbereiche zur Erlangung einer deutlich größeren, digitalen Souveränität formuliert [2], die richtungsweisend von der deutschen Bundesregierung im Oktober 2021 wie folgt zusammengefasst wurden:

  • Kompetenzen: Bis 2030 ist vorgesehen, dass mindestens 80 Prozent der Erwachsenen in Europa über grundlegende digitale Kompetenzen verfügen. 20 Millionen Menschen – darunter mehr Frauen – sollen als Fachkräfte im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie beschäftigt sein.
  • Infrastruktur: Alle europaweiten Haushalte sind bis 2030 an leistungsfähige digitale Netze (sogenannte Gigabit-Anbindung) anzuschließen. Ebenso soll sich der Anteil Europas an der weltweiten Produktion von Halbleitern auf 20 Prozent verdoppeln. Außerdem sind der Aufbau von 10.000 klimaneutralen und hochsicheren Rechenzentren und ein erster Quantencomputer geplant.
  • Wirtschaft: Bis 2030 haben drei von vier Unternehmen Clouds, „Big Data“ und Künstliche Intelligenz zu nutzen. Zudem soll sich die Zahl der sogenannten Start-up-Einhörner, das heißt erfolgreiche Start-ups mit einer besonders guten Marktbewertung, in Europa verdoppeln.
  • Staat: Alle wichtigen öffentlichen Dienste haben online verfügbar zu sein, ebenso wie im elektronischen Gesundheitsdienst die Patientenakten. Darüber hinaus sollen 80 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger die digitale Identität nutzen.

Insgesamt sind diese Ziele recht „hochfliegend“ und geben eine Richtung vor, um die Grundlage von Förderprogrammen und strategischen Zielen zu definieren. Dennoch sind vor allem die letzten beiden Ziele keine konkreten Umsetzungsempfehlungen für einzelne, öffentliche Einrichtungen und Unternehmen. Dieser Umstand hat bisher für eine recht große Kritik – insbesondere die der Realitätsferne – gesorgt. Doch ist es die Aufgabe von übergeordneten, politischen Stellen, konkrete Umsetzungsempfehlungen abzugeben?

Klar gesagt – nein. Denn die IT-Strategie der einzelnen, öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen obliegt den jeweiligen Entscheidungsträgern.

Diese sind im Rahmen ihrer Aufgabe aufgefordert, die zukunftsfähige IT-Strategie für ihre öffentliche Einrichtung oder ihr Unternehmen zu entwickeln und umzusetzen. Jetzt kann man diese Aufforderung und den recht freien Gestaltungsspielraum als negativ oder positiv empfinden – im Grunde mit der metaphorischen Frage verbunden, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Da die positive Einstellung zu anstehenden Veränderungen häufig weiterträgt, natürlich ohne die Realität aus den Augen zu verlieren, sollte diese Fragestellung auch entsprechend beantwortet werden.

Mit dem Marktblick kann man feststellen, dass sich in den letzten Jahren hinsichtlich der Produktvielfalt und den damit verbundenen Möglichkeiten zur Umsetzung moderner IT-Strategien einiges getan hat. Insbesondere Initiativen aus dem Bereich des „Software Defined Everything“ (SDx) haben nicht nur viele Neuerungen versprochen, sondern nach heutigen Messkriterien die Versprechen auch gehalten.

Zusammenhang SDx und SDN

Die Ursprünge von Software-Defined-(SD-)Lösungen fanden im Rechenzentrum statt. Warum ist einfach erklärt. Gerade hier wird ein hohes Maß an Agilität in der Bereitstellung von Rechenzentrumsdiensten benötigt. Diese Agilität wird erreicht, indem die Steuerung der im Rechenzentrum beteiligten Infrastrukturen aus den bisherigen, hardwareintegrierten Funktionssilos herausgelöst wird und somit infrastrukturübergreifend über Softwareschnittstellen (APIs) als Bindeglied zur Verfügung steht.

Ziel dieser Architekturidee ist es, zentrale Automatismen und Regelwerke für die Bereitstellung und den Betrieb der möglichst gesamten Rechenzentrumsinfrastruktur zur Verfügung zu haben, die eine schnelle und flexible Bereitstellung von Applikationen mit allen benötigten Subsystemen erlauben. Parallel hierzu soll im Tagesbetrieb möglichst viel Transparenz zwecks Messung der Auslastung und der Fehlersuche ermöglicht werden.

Das sind gleich mehrere Ziele auf einmal. Das geht nun wirklich nicht – sollte man meinen.

Die Initiativen der Hersteller von Rechenzentrumsinfrastruktur haben das jedoch in den vergangenen Jahren in großen Teilen und ziemlich erfolgreich auf den Weg gebracht. Man kann also festhalten – geht doch.

Aus dieser recht erfolgreichen Rechenzentrumsinitiative heraus wurde das Konzept des SD-Ansatzes auf weitere IT-Infrastrukturen portiert, um vergleichbare, agile Ansätze zu ermöglichen. Daraus hat sich mittlerweile der Marketing-Begriff „Software-Definded Everything (SDx)“ gebildet, um eine Überschrift für diese neuen Lösungen zur Hand zu haben.

In jedem SD-Ansatz steht unabhängig von der damit verbundenen Anwendung das Netzwerk im Fokus. Warum, ist auch hier schnell erklärt. Das Netzwerk bildet immer die Transportplattform zwischen den an der Applikationsbereitstellung beteiligten Systemen.

Vor diesem Hintergrund wurden viele Lösungsansätze durch die Hersteller entwickelt, um das bisher recht geschlossene Silo der Netzwerkinfrastruktur durch SD-basierte Lösungsansätze (Software Defined Networking – SDN) zur Integration in die Gesamtbereitstellung und den damit zusammenhängenden Betrieb zu öffnen.

Marktsegmente SDN

Um einen Überblick über die am Markt befindlichen Lösungen zu erhalten, ist es wichtig, zwischen diesen zwei Marktsegmenten zu unterscheiden:

  • Software-Defined LAN (SD-LAN)
  • Software-Defined WAN (SD-WAN)

Der Bereich SD-LAN beinhaltet die Infrastrukturteile des Local Area Networks (LAN), des Wireless Local Area Networks (WLAN) und des Rechenzentrumsnetzes (DCLAN).

Der Bereich des SD-WAN beinhaltet den Infrastrukturteil des Weitverkehrsnetzes (WAN).

Zur Bewertung der am Markt befindlichen SD-Lösungen ist die Antwort auf die Frage nach der bisherigen Kernkompetenz der Hersteller wichtig und als Startpunkt der Entwicklung zu sehen. Kommen Hersteller aus der LAN/WLAN-Infrastruktur, lag der bisherige Entwicklungsfokus für das SDN-Portfolio ebenfalls hier. Selbiges gilt auch für die Hersteller, die bisher im Bereich des WANs/Firewallings aktiv waren.

Von diesem Startpunkt aus sind die Hersteller bemüht, ihr Produktportfolio unter Einbeziehung des SD-Ansatzes mit unterschiedlicher Prioritätensetzung zu vervollständigen. Unter Berücksichtigung der üblichen Wirtschaftlichkeitsaspekte werden möglichst viele Bestandsfunktionen und Protokolle als Basis für die Entwicklung neuer Lösungsumfänge verwendet. Daher finden sich gerade innerhalb der Transportebene der SDN-Lösungen viele Vokabeln zu Funktionen und Protokollen wieder.

Individuelles SDN-Projekt

Man kann sich mit diesem in vielen Bereichen in der Entwicklung befindlichen Produktportfolio der Hersteller gut vorstellen, dass insbesondere eine gute Anforderungsdefinition zur Betriebsumgebung und damit einhergehende Funktionen eine gute Idee sind. Insbesondere deshalb, weil es zukünftig weniger um Hardwarefunktionen im Sinne der Bandbreitenverfügbarkeit von Einzelports bspw. nach IEEE 802.3bz (Multigigabit), dem letzten PoE Standard nach IEEE 802.3 bt (90W) oder dem letzten WLAN-Standard nach IEEE 802.11ax (bis zu ~9,6 Gigabit/s) geht. Vielmehr wird es um die Definition von Software-Funktionen gehen, die eine Integration möglichst vieler Teilsysteme ermöglichen müssen.

Fazit

Die Europäische Kommission und auch die Bundesregierung haben erkannt, dass moderne IT-Lösungen ein wesentlicher Schlüssel für die Zukunft von öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen in Europa und somit auch in Deutschland sind. Gute und zukunftsfähige Lösungsmöglichkeiten, die viele Anforderungen an moderne, agile IT-Infrastrukturen erfüllen, basieren auf SDx-Ansätzen.

In diesem Umfeld ist es notwendig, vor allem eine moderne Netzwerkinfrastruktur auf Basis von SDN zur Verfügung zu haben, um dieses bisher recht geschlossene Silo zur Einbindung in SDx-basierte Lösungen via Softwareschnittstellen zu öffnen. Wie bei vielen Veränderungsvorhaben gilt es, zu Beginn eine zukunftsfähige Anforderungsdefinition zu erstellen, um den vorwärts gerichteten Blick auf neue Lösungen zu ermöglichen. Für welche Lösung von welchem Hersteller sich letzten Endes entschieden wird, hängt von den üblichen Kriterien der Gesamtwirtschaftlichkeitsbewertung ab.

Zum Schluss vielleicht eine andere Idee zur Betrachtung von neuen, SDx-basierten Lösungen.

Die meisten Menschen nutzen für die individuelle Mobilität moderne Autos mit zeitgemäßen Sicherheits-, Komfort- und Umweltfunktionen. Vor der Kaufentscheidung setzt man sich mit benötigten Funktionen auseinander, die in das Budget passen. Die wenigsten kämen auf die Idee, diese modernen Autos durch Oldtimer zu ersetzen, weil deren Wartbarkeit und Reparatur in Eigenregie deutlich einfacher ist. Stattdessen sucht man sich eine gute Werkstatt, die diese Leistungen bestmöglich erbringt. Dann kann sich der Käufer auf die Funktionen konzentrieren, die das neue Gefährt bei der Nutzung bieten soll.

Verweise

[1] Europäische Kommission (09.03.2021). MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN. Digitaler Kompass 2030: der europäische Weg in die digitale Dekade. https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:12e835e2-81af-11eb-9ac9-01aa75ed71a1.0016.02/DOC_1&format=PDF

[2] Die Bundesregierung (20.10.2021). Digitaler Kompass weist den Weg https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/digitaler-kompass-der-eu-1880194

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